Abschnitt 6
Bayou bei Morrisonville
August 1949
Kober kam nun im Tunnelsystem in einen mit indianischen Motiven
bemalten Gang. An den Wänden des Gangs brannten Ölfackeln. Er hörte
einen monotonen Singsang und den Widerhall von stampfenden Füßen. Als er
um die nächste Biegung kam, sah er eine Gruppe von Menschen in
Geisterhemden in einem tranceartigen Tanz.
Er war in eine riesige Halle gekommen. In deren Mitte stand eine Frau,
eine Schamanin, die mit verdrehten Augen, röchelnd, mit kehligen Lauten,
eine Kugel in ihrer Hand beschwor. Als die Gruppe Kober sah, holte man
ihn einladend in den Kreis und hüllte ihn ebenfalls in ein Geisterhemd.
Weitere Minuten verstrichen, in denen die Gruppe schwitzend weiter
tanzte und die Schamanin offensichtlich in eine andere Welt abgedriftet
war. Kober stand staunend der Schamanin gegenüber. „Ein Geistertanz“,
ging es ihm durch den Kopf. Langsam schwankend kam die Schamanin auf ihn
zu. Sie trat ganz dicht an ihn heran und öffnete eine aus Metall
bestehende Kugel. Im Innern der Kugel brannte eine Flamme. Ein von
dieser ausstrahlendes Licht schien nun in ihre beiden Gesichter. Sie
legte ihm die Kugel in die Hände. „Atme es tief ein“, flüsterte die Frau
ihm ins rechte Ohr. Kober wurde von wohliger Wärme durchflutet, ihn
durchströmte eine aufputschende Energie! „Schau zur Wand“. Als er nun
zur Wand sah, begannen die Pferde der Wandbemalung zu galoppieren, eine
Herde mit Rindern daneben bewegte sich im Trab durch die Prärie, das
ganze Szenario auf der Felswand war in Bewegung. Die Schamanin griff
nach Kobers Armen. Langsam drehte sie sich nun mit ihm im Kreis, während
die Gruppe um sie herum ihren Tanz nochmals beschleunigte.
Kober war nun ebenfalls in eine andere Welt abgedriftet. Eine Art Traumwelt. Er befand sich nun in seinem Heimatdorf.
Dort sah Max Ida. Er folgte ihr. Er rief ihren Namen. Er kam aber nicht
näher zu ihr hin, obwohl er lief. Sie schaute sich auch nicht um. Er
verlor sie aus den Augen. Erst an der Kirche fand er sie wieder. Sie
wurde von einem Jungen an den Schultern festgehalten. „Thomas“, schoss
es Kober durch den Kopf. Thomas war ja einige Jahre älter und natürlich
viel stärker als Ida Tiemann. Sie konnte sich nicht aus seinem Griff
lösen. „Lass Ida los“, rief Kober. Doch von Thomas kam keine Reaktion.
Sie konnten Kober anscheinend nicht sehen. Auch nicht als Kober direkt
bei den beiden stand. „Du wirst niemanden davon erzählen.“ Thomas
schüttelte Ida. „Niemanden. Hast du gehört?“ „Lass mich los.“ Ida riss
sich los. „Ich werde allen erzählen, was du gemacht hast“. Sie lief die
Treppe runter. Thomas hechtete ihr hinterher. Bekam sie zu fassen. Als
Kober die Treppe ebenfalls hinuntergelaufen war, stand Thomas mit einem
Stein in der Hand neben dem toten Mädchen.
Ida hatte die Kirche als Abkürzung genommen. Quer durch die Kirche,
dahinter lag direkt der Laden ihrer Eltern. Doch in der Kirche traf sie
auf Thomas, der gerade einen Kirchenraub vorbereitete.
In einem Moment stand Kober noch hinter der Kirche und schaute zu wie
Johann Hünighusen die Leiche Idas auf einen Wagen lädt. Im nächsten
Moment fand er sich wieder in den Armen der Schamanin. Nun aber nicht
mehr in der Höhle, sondern in der großen Halle des Sägewerks.
[Video: „Ekstase? Hatte ich mir ganz anders vorgestellt“] Video-Player00:0004:11
KRISTINA HAYBACH: Entschuldige, ich hab mich dir noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Kristina Haybach, die spirituelle Führerin der „Visions For A Better Society“.
MAX KOBER: Max Kober.
KRISTINA HAYBACH: Ich weiß. Ich kenne dich aus Gesprächen mit Thomas. Du warst ein guter Freund seines Bruders Paul, nicht wahr?
MAX KOBER: Ich hab ihn eben gesehen. In der Kirche. Wessen Erinnerungen waren das?
KRISTINA HAYBACH: Es war die Wahrheit. Du sahst wie Thomas den
Kirchenschatz aus der Sage suchte. Edmund Mertzbach hatte ihm von einem
zugemauerten Treppenhaus in der Kirche erzählt. Dort hatte man 1795
einige wertvolle Gegenstände hingebracht, die man vor den anrückenden
Franzosen in Sicherheit bringen wollte. Der Gang war längst in
Vergessenheit geraten. Edmund war nun auf die Spur des Verstecks
gekommen.
Thomas hatte den alten Opferstock zur Seite geschoben und einen Stein
aus der Wand gelöst. Er holte den Stein raus. Mit einer Hand griff er
gerade in das Loch. Da stand plötzlich Ida bei ihm und sagte: „Du hast
den Schatz entdeckt!“ Thomas war bis ins Mark erschrocken. Ida war schon
auf dem Weg zur Tür. „Oh, wie wunderbar. Thomas hat den Schatz
entdeckt“, rief sie, war aber schon aus der Kirche gehüpft. „Das muss
ich gleich Max und Paul erzählen“, waren die letzten Worte die Thomas
noch hörte, bevor sich die schwere Kirchentür schloss. Er rannte Ida
nach.
MAX KOBER: Du sagst das wäre die Wahrheit. Ich habe das ganz anders in Erinnerung.
KRISTINA HAYBACH: Der Vater von Paul und Thomas hat euch eine Erinnerung eingepflanzt. Damals rannte Thomas geschockt rüber zu seinem Vater. Der baute schnell eine neue Geschichte zusammen. Nicht sonderlich schlau, meinte Thomas. Eher kopflos. Zunächst wollte er alles wie einen Unfall hinstellen: Ida hat mit Max und Paul gespielt und dabei ist sie die Treppe hinuntergestürzt. Dies impfte er euch ein und ihr habt dies tatsächlich geglaubt. Doch dann hatte er noch eine andere Idee: Er wollte den Tod des Mädchens Edmund in die Schuhe schieben. Der galt im Dorf immer noch als merkwürdiger Zugezogener. Der Hünighusen versenkte also die Leiche im Mühlenteich, ging humpelt zurück, so dass Beobachter glauben sollten, es sei Edmund gewesen. Dann streute er darüber Gerüchte im Dorf.
MAX KOBER: Das hat dir Thomas also erzählt. Ist er hier?
KRISTINA HAYBACH: Nein. Ich wüsste selber gerne wo er ist. Nach Carls Tod haben wir ein Problem: Das was Thomas und Walter damals während der Flut mitgebrachten, es ist der Brennstoff für unser System. Zuerst haben wir es selber hergestellt, später kam dann Walter Niess auf uns zu… Er lieferte auch – bis kurz vor Kriegsende. Er ist wohl an der Ostfront gefallen, gilt als vermisst. Die Firma Vogel & Niess wurde kurz darauf aufgelöst. Jetzt gehen leider unsere Vorräte zur Neige.
MAX KOBER: Corvfarin?
KRISTINA HAYBACH: Ja, ein erstaunlicher Stoff, nicht wahr?!
MAX KOBER: Zweifellos. Ja.
Wo sind wir hier eigentlich? Ist das hier alles real?
KRISTINA HAYBACH: Wir sind in Ekstase.
MAX KOBER: [skeptisch] Ekstase? Hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
KRISTINA HAYBACH: Durch den Tanz und die Dämpfe der
Corvfarin-Tabletten haben wir diesen Zustand erreicht. Das ist unsere
Energie. Unsere Körper sind in der Höhle, während unser Selbst, also
unsere Seelen vom Körper losgetrennt sind. Hier dieser Raum ist nur eine
Illusion.
Das alles ist eine spezielle Technik, die Carl entwickelt hat.
MAX KOBER: Eindrucksvoll. Aber weshalb ich? Was willst du von mir?
KRISTINA HAYBACH: Wir werden deine Seele in den Körper des
Pharmaunternehmers Bill Edwards pflanzen. Corvfarin wird dir helfen die
Seele von Edwards zu beherrschen.
Du wirst uns helfen, das Rezept von Corvfarin zu finden und es dann bei Edwards herstellen. Du wirst Edwards sein!
Hinweis: Dies ist ein fiktives Dokument zur transmedialen Geschichte „Die brennende Kugel“. This is a fictional document!