Abschnitt 11
Lindlar
April 2018
Wie erstarrt schaute sie durch die
Frontscheibe des Cafés auf die Kölnerstraße, auf der der
Feierabendverkehr vorbei rauschte. Geistig war sie vollkommen abwesend,
sie sah weder die anderen Besucher im Café, noch registrierte sie, was
auf der Straße geschah, die sie doch augenscheinlich beobachtete. Ihre
Augen stierten ins Nichts. Ihr Milchkaffee kühlte immer mehr ab. Als die Bedienung sie ansprach, erschrak sie.
„Wie bitte?“, sagte Noa Sophie Kober.
„Du sagtest, du wolltest eventuell auch ein Stück Kuchen haben.“
„Ach ja. Was habt ihr denn?“
„Einen gedeckten Apfelkuchen, eine Schokotorte und Nussecken.“
„Ich nehm eine Stück Apfelkuchen. Aber ein nicht zu großes Stück.“
Die Bedienung verschwand.
Sie schaute nun wieder auf die Fotokopien, die vor ihr langen. Das
oberste Blatt nahm sie in die Hand. Wieder began sie zu lesen. Sie
schüttelte den Kopf. Das was hier stand, stellte alles auf den Kopf, was
sie bisher in der Angelegenheit recherchiert hatte. War an allem doch
ein Funken Wahrheit? Aber selbst dieser Text könnte eine Fälschung sein.
Andererseits, wer sollte so etwas machen? Zumal dieser Text zeitlich
vor allen anderen Quellen einzuordnen war.
Sie hatte am Nachmittag einen Termin im Stadtarchiv gehabt. Im Internet
hatte sie in den Beständen des Archivs, den Nachlass von Edmund
Mertzbach gefunden. Die Leiterin des Archivs hatte ihr gesagt, dass sich
die Unterlagen von Mertzbach in den letzten Jahrzehnten niemand
angesehen hätte. Ein ortsansässiger Stadtforscher hätte sie in den
späten fünfziger Jahren begutachtet, aber für ihn war in dieser Sammlung
kein wahrer Sinn zu sehen. Einzig die Hinweise auf einen Brand im Jahr
1784 fand er interessant, konnte ihn aber der hiesigen Stadt nicht so
recht zuordnen. Genau dieser Artikel war es, der ihre bisherigen
Forschungen auf den Kopf stellte. Der Text war einer Zeitung entnommen,
die wohl im Rheinland erschienen war. Auf der Rückseite gab es Meldungen
aus Düsseldorf und dem Amt Angermund. Jemand hatte „1784
Jülich-Bergische“ daneben geschrieben. Sie hatte von einem Blatt mit dem
Namen „Gülich und Bergische wöchentliche Nachrichten“ gelesen, welches
in Düsseldorf publiziert worden war. Vielleicht war dieser Artikel dort
erschienen.
Sie holte ihr Laptop aus der Tasche. Die Bedienung brachte den
Apfelkuchen. Über die Bayerische Staatsbibliothek konnte sie auf die
digitalisierten Ausgaben der „Gülich und Bergischen wöchentlichen
Nachrichten“ ([1])
zugreifen. „Mit Ihro Churfürstl. Durchlaucht gnaedigst ertheiltem
Privilegio“ stand zu oberst auf der Titelseite, dann folgte der
eigentliche Zeitungstitel in einer kleineren Schrift. Die Frakturschrift
der Seiten auf dem Bildschirm stimmten mit der auf ihrer Fotokopie
überein. Sie blätterte ein wenig durch die digitalisierten Seiten, fand
ihren Artikel aber nicht in den Ausgaben Januar bis April 1784. Sie
würde zuhause weiter suchen.
Sie klappte ihr Laptop zu und las erneut den Artikel. Mit einem Beistift unterstrich sie ein paar Passagen.
„Mir wurde von einem unmenschlichen Schrei aus dem Haus des Wundarztes berichtet. Um Viertel nach sieben Uhr war ich in der Gasse bei der Brandstätte, das Haus selber lag vollkommen darnieder. Gelöscht wurde kaum. Die Leute liefen mehr vom Feuer weg als das sie versuchten es zu löschen. Noch gab es keinen der versuchte Wasser herbeyzuschaffen. Unten im Hof waren einige die durch Beten glaubten die Strafe Gottes zu mildern. Wenig später war ich auf dem Gange im obersten Stockwerke des Escher Hauses. Dort brannten bereits die Dachbalken. Hier versuchte man mit Wasser aus Ledereimern und nassen Decken das Feuer zu dämpfen. Doch auch dieses Haus brannte von oben herab, und ward ein Raub der Flamme. Die im Dorf vertheilten Feuerleitern sind, ich wage nichts, wenn ich sage, alle unbrauchbar und unnütz. Erst als das Bühlerische Haus eingerissen wurde, konnten die Flammen hier aufgehalten werden. Die Feuersglut wütete aber zur anderen Richtung weiter. Alle sechs Häuser bis zur Steingasse brannten nieder, obwohl der Amtmann nun die Leute zum Löschen commandirte. Eine Reihe mit Eimern vom Bach herauf kam aber kaum zu Stande. Dennoch kann ich einige Personen hervorheben die durch ihre Arbeit schlimmeres verhindern konnten. Peter Kauffmann, der beim Einreißen des Hauses die meiste Arbeit machte. Wilhelm und Jakob Breidenbach, die in der Oberen Gasse versuchten das Feuer aufzuhalten und Steffen Ley, der sich um die Leitern kümmerte. Was mit dem Wundarzt Johannes Nikolaus Gierlich geschah, wusste niemand.“
In einer Sage, die hier im Ort spielt, hieß
es „Das Haus ging in Flammen auf und brannte bis auf die Grundmauern
nieder. Die sich ausbreitende Feuersbrunst zerstörte die ganze Gasse.“
Dies stimmte mit dem Zeitungsartikel überein. Und auch der Name des
Wundarztes war identisch: „In Lindlar im Bergischen Land unweit des
Lennefe Bachs, am waldbedeckten Höhenzug zwischen Sülz und Agger lebte
vor einigen hundert Jahren ein Wundarzt namens Johannes Nikolaus
Gierlich,“ hieß es im von Heinrich Gustav von Hipel aufgezeichneten
Sage. Allem Anschein nach, hatte es diesen Brand, dessen Herd wohl im
Haus des Wundarztes gelegen hat, tatsächlich gegeben. Und der Wundarzt
war damals wirklich spurlos verschwunden. Zusammen mit dem Fremden
konnte laut der Sage Gierlich fliehen und die beiden „sollen gen Holland
gegangen“ sein. Über die falsche Zeitangabe „vor einigen hundert
Jahren“ konnte man wohl hinweg sehen, dies war als dichterische Freiheit
zu betrachten. Aber wenn der Rest oder ein Teil davon Tatsachen wären,
könnten dann auch die Dinge, die die Schamanin Kristina Haybach 1986 in
einem Interview erzählt hatte, der Wahrheit entsprechen?
Kristina Haybach war damals in ihren späten Siebzigern, als sie der
amerikanischen Underground-Zeitschrift FREE von ihrer Zeit in Baton
Rouge und San Francisco erzählte. Noa hatte sich diese Zeitschrift per
Ebay besorgt, nachdem sie in einem Interviewauszug des Magazins, den
Namen ihres Großvaters Max Kober gefunden hatte.
Haybach berichtete von dem Medikament Corvfiran vom britischen
Pharmaunternehmen Clough & Hanley, für das Noas Großvater über
Jahrzehnte tätiggewesen und wesentlich an der Entwicklung von Corvfiran
verantwortlich gewesen war. Das Medikament war 1972 verboten worden.
Die Hippiebewegung hatte es ab den 60er Jahre für sich entdeckt. Zündete
man Corvfiran an, führte das Einatmen der Dämpfe zu besonders
rauschartigen Halluzinationen. Nach dem Verbot
kam man noch bis weit in die 70er Jahre illegal an Corvfiran. Haybach
berichtete auch vom Vorgängerprodukt Corvfarin, welches von Carl
Feinhals und Edmund Mertzbach zwischen 1907 und 1927 entwickelt worden
war und von ihr in den 30er und 40er Jahre eingesetzt wurde.
Zwischenzeitlich – 1942 bis 1944 – sei Corvfarin von der deutschen Firma
Vogel & Niess hergestellt worden. Auf dieser Grundlage hätte Dr.
Max Kober von Clough & Hanley entwickelt. Haybach erzählte, dass sie
Kober 1949 einmal getroffen und ihn auf Corvfarin aufmerksam gemacht
hätte. Aber Erfinder wären Feinhals und Mertzbach gewesen. Auf die Frage
welche Rolle der New Yorker Industrielle Robert Ellsberg gespielt
hätte, sagte Haybach, er hätte nur in den ersten Jahren mitgewirkt.
Max Kobers Forschungen hatten fast neun Jahre gedauert. Clough &
Hanley brachten Corvfiran 1961 auf den Markt. Unter den Hippies, Ende
der 1960er Jahre, waren der Pillen als Fireballs sehr beliebt. Zusammen
mit tranceartigem Tanz und den berauschenden Dämpfen der Pillen gerieten
die Leute in Ekstase. Gruppen von Hippies erstarrten im Rausch und
drifteten geistig in eine andere Welt ab.
Noa Sophie Kober hatte nun intensiv nach den von Haybach genannten Namen
recherchiert. Carl Feinhals war bereits im 19. Jahrhundert aus
Süddeutschland in die USA ausgewandert, wo er um die Jahrhundertwende
den Naturforscher Edmund Mertzbach und den gerade aus Osnabrück
eingereisten Robert Ellsberg kennenlernte. Ellsberg wurde durch die
Heirat mit Dorothy McCorley (ihr Vater gründete MC Aero Technologies
Corporation 1902 als McCorley Standard) zu einen reichen New Yorker
Industriellen. Mertzbach lebte nach dem Ersten Weltkrieg wieder in
Deutschland, genauer gesagt in Lindlar, dort wo sie nun saß. Überhaupt
war diese Stadt das Zentrum der ganzen Sache gewesen. Von hier war diese
„Kugel aus Metal“, als wesentliches Bestandteil von Corvfarin,
gekommen. Ein Thomas Hünighusen hatte die Kugel für Mertzbach nach
Louisiana zu Feinhals gebracht. Hünighusen war von Ellsberg und seiner
Bande 1949 umgebracht worden. 1950 wurde Ellsberg und zwei seiner
Komplizen inhaftiert. Mertzbach war bereits 1927 verstorben. Feinhals
verstarb 1949.
Je länger sich Noa mit Max Kober und der Geschichte Corvfarin/Corvfiran
beschäftigt hatte, um so mehr glaubte sie, dass es sich dabei um
esoterischen Hokuspokus handeln würde. Schwachsinn aus dem Bereich der
Parapsychologie. Was hatten die Hippies wirklich gesehen, als sie ihre
Fireballs inhalliert hatten? Einige von ihnen hatten berichtet, dass sie
unter der Wirkung von Corvfiran in Ekstase gewesen wären, wobei ihr
Körper erstarrt sei und ihr Geist Geschichten miterlebt hätte, die oft
über Jahre gereicht hätten, obwohl sich die Starre oft schon nach einer
Stunde gelöst hätte. Wissenschaftliche Untersuchungen hatte es bisher
ausserhalb der Parapsychologie nicht gegeben. Und selbst die waren
bereits in den frühen 80er Jahren im Sande gestrandet.
Sie selber hatte nur wegen der Beteiligung ihres Großvaters weiter an
der Sache geforscht. Sie hatte im Stadtarchiv alle Dokumente von Edmund
Mertzbach fotokopiert. Die meisten Erkenntnisse erhoffte sie sich aus
handgeschriebenen Blättern, die Heinrich Gustav von Hipel geschrieben
hatte, der Mann der die brennende Kugel erfunden oder entdeckt hatte.
Hinweis: Dies ist ein fiktives Dokument zur transmedialen Geschichte „Die brennende Kugel“. This is a fictional document!