Dieses Buch ließ mich mit einem >Wow!< zurück. Zum Großteil ist es ein spannender Thriller. Zum Ende hin wird es philosophisch, was bei mir keinen Abbruch tat. Bei mir hatte das Buch das Interesse geweckt mich noch etwas näher mit der Geschichte und den Hintergründen zu beschäftigen.
Den Klappentext den der Verlag Knaur gewählt hatte beschreibt wie so oft den Inhalt des Buches nur spärlich. Aber der Titel des Buches und die Beschreibung haben mich auf das Buch neugierig gemacht und bei mir eine Vorfreude erzeugt.
„Man schreibt das Jahr 1780
Der junge Nürnberger Arzt Nicolai Röschlaub soll einer Reihe merkwürdiger Todesfälle nachgehen. Begleitet von einer rätselhaften jungen Frau, beginnt für Nicolai eine Suche, die ihn an die äußersten Grenzen des Landes und ins Innerste seiner Seele führt. Die Zeit drängt, denn das Geheimnis ist aus dem Stoff, der eine Welt zerstören kann.“ (Klappentext, November 2004)
Wolfram Fleischhauer beteiligte sich an Leserunden im Internet, wo er Fragen zu seinem Roman beantwortete. Einleitend zu einem längeren Text, in dem er detailliert einige Dinge seines Buchs näher erläuterte, schrieb er auf literaturschock.de:
„Ich weiß zwar nicht, ob es eine gute Idee ist, wenn ein Autor sein eigenes Buch erklärt, denn das bedeutet ja offensichtlich, daß das Buch nicht gelungen ist. Aber vielleicht ist das hier ein Grenzfall ?“
(Wolfram Fleischhauer, 2005, literaturschock.de)
Gelungen finde ich das Buch auf jedem Fall. Wenn man nun ins Detail gehen würde, dann könnte man sagen, dass nicht alle mysteriös angelegten Seltsamkeiten ausreichend erklärt wurden. Historische Stoffe benötigen oft mehr Erklärung, zumal es hier im Roman um Dinge geht, die aus der heutigen Sicht nur noch schwer nachvollziehbar sind. Es wird wirklich versucht eine längst untergegangene Welt zu schildern.
„Es ist kein Krimi, bzw. der >Täter< ist etwas relativ Abstraktes, etwas, das uns heute sehr fremd ist.“ (Wolfram Fleischhauer, 2005, literaturschock.de)
Das Buch ist kein Krimi im eigentlich Sinn, aber als historischen Thriller würde das Buch durchgehen. Vergleichbar mit „1793“ von Niklas Natt och Dag.
Interessant ist was Wolfram Fleischhauer ursprünglich zum Inhalt des Romans kam:
„>Das Buch in dem die Welt verschwand< habe ich ausgelöst durch den Anschlag vom 11. September (2001) geschrieben, Stichwort Kampf der Kulturen, radikale Aufklärung versus religiöser Fundamentalismus. Auch hier wieder die gleiche Situation: nur die Bühne ist manchmal historisch, nie das Thema.“ (Wolfram Fleischhauer, 2011, leserunden.de)
Gemeint sind radikale christliche Sekten, die auf die Aufklärung prallten. Dazu finden sich im Internet jede Menge Texte. Ich habe z.B. etwas über die >Gichtelianer< gelesen, einer Sekte die aus dem Freundeskreis von Johann Georg Gichtel (1638 — 1710) hervorgegangen ist, die den Beinamen die „Gemütlichen“ hatten. Diese protestantische Sekte übte Enthaltsamkeit selbst in der Ehe (sexuelle Askese), man ging keinerArbeit nach und lebte von Spenden. Ende des 19. Jahrhunderts spalteten sich die Gichtelianer in „alte“ und „neue Gemütlichkeit“. Frauen sah man als Versuchung, man beführwortete die >geistliche Ehe mit der himmlichen Jungfrau Sophia<. Diese kurze Beschreibung der Gichtelianer greift natürlich viel zu kurz, wenn man sich aber näher mit ihnen beschäftigt, wird deutlich, dass diese Welt uns (bzw. vielen von uns) heute fremd ist und erklärt werden muss.
Wolfram Fleischhauer gibt auch Einblicke wie er über Recherche seinen Inhalt erstellt:
„Während der Recherchen für Das Buch in dem die Welt verschwand stieß ich in der Eutiner Landesbibliothek zufällig auf die Verhörprotokolle einer merkwürdigen Sekte, die im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland einiges Aufsehen erregt hatte und scharf verfolgt wurde: die sogenannte >Buttlarsche Rotte<. Manche überlieferten Äußerungen dieser radikalpietistischen Gruppe um Eva von Buttlar …“ (Wolfram Fleischhauer auf seiner Webseite)
Wie die >Gichtelianer< war mir auch die >Buttlarsche Rotte< vollkommen unbekannt. Ich komme auf Eva von Buttlar bei den Romanfiguren zurück.
Über den Justizrat Giancarlo Di Tassi, der angeblich vom Reichskammergericht in Wetzlar kommt, kommen seltsame Briefe und Geheimcodes ins Buch. Dazu sagte Wolfram Fleischhauer:
„Der Geheimcode stammt aus einem Buch über Geheimgesellschaften aus dem 18. Jahrhundert. Die ganze Geschichte der Briefspionage, also Di Tassi und seine Leute, ist in einer sechsbändigen Dissertation über die Wiener Ziffernkanzlei dargestellt. Dort arbeiteten damals die besten Codierer und De-Codierer Europas.“ (Wolfram Fleischhauer, 2005, buechereule.de, zum Geheimcode auf Seite 364-365)
„Der Verfasser der Dissertation heisst Hubatschke. Das Werk gibt es, glaube ich, nur in Wien und ich habe es mir über Fernleihe bestellt.“ (Wolfram Fleischhauer, 2005, buechereule.de)
Zu dieser Dissertation von Harald Hubatsche findet man im Internet ein paar Hinweise:
Harald Hubatschke, Die amtliche Organisation der geheimen Briefüberwachung und des diplomatischen Chiffrendienstes in Österreich. (Von den Anfängen bis etwa 1870), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 83 (1975), S. 352–413.
Harald Hubatschke, Die Wiener Geheime Ziffernkanzlei (1716-1848). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Band 83, Heft 3 (1975) 389
„Auch Hubatschkes Dissertation war immer wieder Thema: Unglaubliche 1.600 Seiten verfasste der gebürtige Groß Sieghartser über Geheimdienste.“ (meinbezirk.at, 2014)
Harald Hubatschke, Ferdinand Prantner (Pseudonym Leo Wolfram) 1817 — 1871. Die Anfänge des politischen Romans sowie die Geschichte der Briefspionage und des geheimen Chiffredienstes in Österreich. Buch 5 (ungedruckte philosophische Dissertation, Wien 1975) 1289.
Es wurde bereits erwähnt, dass Wolfram Fleischhauer u.a. in Eutin in der Landesbibliothek recherchiert hat. Er sagte etwas zu seinen Beschreibungen der Reise, den die Protagonisten von Franken aus unternehmen:
„Ich habe die Gegend, wo der Roman spielt, nur in alten Reisebeschreibungen bereist, denn natürlich findet man heute kaum noch Spuren von dieser verschwundenen Welt. Es gibt in Eutin eine wundervolle Bibliothek, wo die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts gesammelt ist, 80.000 Monographien, Karten, Tagebuecher etc. Ich habe mehrere Tage dort verbracht und die Leute aus der Bibliothek haben mir ganz toll geholfen.“ (Wolfram Fleischhauer, 2005, buechereule.de)
Die Landesbibliothek schreibt:
„1992 wurde an der Eutiner Landesbibliothek die Forschungsstelle zur historischen Reisekultur gegründet. Aufgabe dieser in Deutschland einmaligen Einrichtung ist die Sammlung, Verzeichnung und Auswertung historischer Reiseberichte. Die Eutiner Landesbibliothek besitzt eine umfangreiche Sammlung von Reiseliteratur. Dazu gehören Reiseberichte, Topographien, Reiseromane und verwandte Literatur aus fünf Jahrhunderten, in mehr als zehn Sprachen und ohne regionale Begrenzung. Die Bibliothek besitzt rund 6.000 Originalausgaben aus dem 16.-20. Jahrhundert, 1.200 historische Reiseführer, 1.300 Ausgaben in Kopie, 1.700 Neuausgaben und Reprints, 450 Titel in Mikroformen, mehrere handschriftliche Reisetagebücher, eine umfangreiche Sammlung von modernen Reiseführern und Ortsprospekten. Dazu kommen über 2.300 Titel Sekundärliteratur, Spezialbibliographien und Nachschlagewerke.“ (Eutiner Landesbibliothek, gesehen 25.08.2020)
Zum Beispiel findet man im Verzeichnis der Eutiner Landesbibliothek:
Heger, Franz Joseph: Post-Tabellen oder Verzeichnuß deren Post-Strassen in dem Kayserlichen Römischen Reich und zum Theil auch in denen angräntzenden Landen. – 1764
Zu weiteren Punkten des Buches habe ich mich ein wenig im Internet umgesehen.
Leopold Auenbrugger (1722 – 1809), der Erfinder der Percussion des Brustkorbes
Der Arzt Nicolai Röschlaub untersuchte in Anwesenheit von Apotheker Zinnlechner die Leiche von Graf Alldorf. Da er die Leiche nicht öffnen konnte, verwendete er die Methode von Leopold Auenberger:
„Nicolai erklärte: >Der Brustkorb ist ein Hohlkörper, worin Organe liegen. Die unterschiedliche Größe und Lage der Organe führt dazu, dass das Klangvolumen der Brust völlig uneinheitlich ist. Wenn ich hier klopfe, ist der Ton hell. Tue ich es dort, wo Ihr Herz sitzt, so ist die Resonanz dunkler. Hören Sie das?<
Zinnlechner nickte unsicher.
>Das Prinzip ist einfach<, fuhr er fort. >Auenbrugger hat die Methode schon vor sechzehn Jahren an Leichen und Patienten entwickelt. Anhand des verschiedenen Widerhalls der Töne kann man sich ein Urteil über den inneren Zustand dieses Hohlraums bilden.“ (Wolfram Fleischhauer: Das Buch in dem die Welt verschwand, S. 95)
In seinem Buch von 1761 schrieb Leopold Auenbrugger:
„Ich lege dir, günstiger Leser, ein neues von mir erfundenes Zeichen vor zur Entdeckung der Brustkrankheiten. Es besteht im Anschlagen an den menschlichen Brustkorb, aus dessen verschiedenem Widerhall der Töne sich ein Urteil über den inneren Zustand dieser Höhle gewinnen läßt.“ (Leopold Auenbruggers Neue Erfindung: mittelst des Anschlagens an den Brustkorb, als eines Zeichens, verborgene Brustkrankheiten zu Entdecken (1761), Reprint 1912, S. 8; übersetzt von Viktor Fossel)
Mit Hilfe der Percussion des Brustkorbs entdeckt der Arzt eine Vomika. Dazu sagte Fleischhauer:
„Der Begriff [ Vomika] taucht in der zeitgenössischen medizinischen Literatur im Zusammenhang mit der Heimwehkrankheit auf. Im Grunde ist es ein damals nicht erklärbares Geschwür. Heut würde es man wohl als Rippenfellentzündung, TBC oder Krebs bezeichnen. Der Roman benutzt die Krankheit natürlich sinnbildlich, d.h. v.a. im psychososmatischen Sinne. Merkwürdigerweise verschwindet die Krankheit fast gleichzeitg mit dem Erscheinen des Buches, um das es geht. Daher erschien mir diese Krankheit als ideal für die Grundfrage des Romans: kann man an Gedanken sterben bzw. erkranken.“ (Wolfram Fleischhauer, 2005, buechereule.de)
In seinem Buch über Auenberger schrieb Conrad Clar:
„Die eitrige Vomika kann aber sowohl in der Lunge, als auch in den übrigen Theilen des Thorax ihren Sitz haben. Beide Arten von Vomiken sind entweder geschlossen, oder öffnen sich in der Luftröhre. Auenberger verstand die Vomiken gut zu diagnosticiren. Er macht die Bemerkung, dass die Stelle, wo die Vomika liege, vor ihrer Entleerung den Schenkelton gebe, nach derselben aber einen nur etwas gedämpften Schall hören lasse. … wenn man dort, wo die Vomika mittelst der Percussion entdeckt worden sei, die Hand hinlege, man, während der Kranke hustet, das Geräusch des Eiters im Innern der Brust deutlich fühlen könne.“ (Conrad Clar: Leopold Auenbrugger, der Erfinder der Percussion des Brustkorbes, geb. zu Graz 1722, gest. zu Wien 1809, und sein Inventum novum (1867) (vgl. Wikipedia: Leopold_von_Auenbrugger; Perkussion_(Medizin))
Post-Tabellen oder Verzeichnuß deren Post-Strassen in dem Kayserlichen Römischen Reich und zum Theil auch in denen angräntzenden Landen (1764)
„Di Tassi ! Mein Gott, vor ihm stand eindirekter Angehöriger der berüchtigten lombardischen Familie, der es über die Jahrhunderte gelungen war, das Postmonopol der habsburgischen Kaiser,das Taxis’sche Postsystem, aufzubauen.“ (Fleischhauer, S. 164)
Wikipedia: Thurn_und_Taxis
In den Post-Tabellen-Bücher wurden die Postrouten aufgelistet.
Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft
Personen im Roman
Nicolai Röschlaub, Lizenziat, die Hauptperson, der Held. (Es gab den Mediziner Andreas Röschlaub [1768 – 1835], der evtl. als Namensgeber diente.)
Theresa, die Enkelin von Nicolai Röschlaub im Prolog
Magdalena Lahner (die blonde Frau, S. 75, 85), die im Klappentext genannte „rätselhafte junge Frau“. Sie ist eine Nachfahrin von Eva von Buttlar.
Philipp Lahner (S. 297), Bruder von Magdalena Lahner. „Der wiederum hatte Maximilian Alldorf erschlagen. Aber warum? Was hatte Selling damals gesagt? Studentenhändel. Eine Schlägerei zwischen Burschenschaften. Und Lahner wurde dafür hingerichtet“
Graf Alldorf (Alldorfer Linie des Hauses Lohenstein, S. 79, 87)
Maximilian von Alldorf (+ 1780 mit 21 Jahren, geb. 1759)
Agnes von Alldorf (1733 – 1780, S. 103)
Marie Sophie von Alldorf (+ mit 19 Jahren, geb. 1761)
Stadtphysikus Müller, Röschlaubs Chef in Nürnberg
Kammerherr Selling, Angestellter von Graf Alldorf
Apotheker Zinnlechner, ebenfalls in Alldorf
Gutsverwalter Kalkbrenner, auch in Alldorf
Boskenner, einer der Diebe, die Postkutschen überfallen und abbrennen.
Mailänder, auch ein Dieb
Giancarlo Di Tassi, Justizrat, vom Reichkammergericht in Wetzlar
Feustking, einer von Di Tassis Leuten
Markgraf Alexander von Ansbach-Bayreuth, reale Person (1736 – 1806) Wikipedia: Alexander_(Brandenburg-Ansbach-Bayreuth)
Lady Eliza Craven, reale Person (Wikipedia: Elizabeth_Craven)
Immanuel Kant, reale Person (1724 – 1804, geboren und gestorben in Königsberg, seit 1724 die Königliche Haupt- und Residenzstadt in Preußen) ; Albertus-Universität Königsberg
Falk (S. 297), Student in Leipzig, mit Philipp Lahner bekannt
Eva von Buttlar, ist eine reale Person (1670 – 1721), Begründerin der Gesellschaft Evas, zuvor Hofdame am Hof in Eisenach (S. 339)
„Im Jahr 1702 entstand in der Grafschaft Witgenstein die sogenannte Buttlarische Rotte. Sie übten unter dem Scheine der Frömmigkeit und Heiligkeit die schändliche Laster aus. Eva Margareta von Buttlar, Justus Gottfr. Winter von Eschwegen, Joh. Ge. Appenzeller von Schleusingen und Anna Sidonia,Fräul. von Callenberg, waren die Hauptpersonen. Winter, Appenzeller und Buttlar nenneten sich die Dreyfaltigkeit. Die Rotte ward schon 1705 zerstöret …“ (aus: Kirchengeschichte des neuen Testaments, 1777)
Darunter werden aufgelistet:
– Christoph Schütz, ein Radikalpietist aus Umstadt (Pfalz), Autor von >Güldene Rose / oder ein Zeugnüs der Warheit von der uns nun so nahe bevorstehenden Güldenen Zeit des tausendjährigen und ewigen Reichs Jesu Christi< (1727)
– Elias Eller aus Ronsdorf (Herzogtum Berg = Bergisches Land), Gründer einer radikal-pietistischen christlichen Sekte sowie Gründer der Stadt Ronsdorf.
Sie alle werden hier als „Fanatiker“ und „Schwärmer“ bezeichnet.
Buch: Willi Temme: „Krise der Leibhaftigkeit – die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700 (siehe Goolge-Books)
Siehe Wikipedia: Eva_von_Buttlar; Buttlar_(Adelsgeschlecht); Saßmannshausen
Link: www.siwiarchiv.de/vortrag-die-gesellschaft-der-eva-von-buttlar-und-ihr-gefolge/