Über den Fähigkeitenansatz, Staunen, Neugier und „sorgfältige und liebevolle Beobachtung“
Für mich waren diesem Buch zwei Gedanken wichtig: Erstens der im Buch detailliert vorgestellte Fähigkeitenansatz und zweitens der Hinweis auf das Staunen und die „sorgfältige und liebevolle Beobachtung“, was bei Naturbeobachter grundlegend sein sollte.
Zunächst einmal sei mit ein paar Zitaten dargelegt, wie Nussbaum das Verhältnis von Menschen und Tieren sieht und was bei diesem Verhältnis grundsätzlich schief läuft.
„Wir Menschen glauben, dass wir, weil wir uns hier vorgefunden haben, das Recht besitzen, den Planeten zu nutzen, um uns zu ernähren, und Teile davan als unser Eigentum zu betrachten. Doch wir sprechen anderen Tieren das gleiche Recht ab, obwohl ihre Situation genau dieselbe ist. Auch sie haben sich hier vorgefunden und müssen versuchen, so gut es geht, zu leben.“ (S. 25) Die Tiere und wir haben uns also hier auf der Erde „vorgefunden“, sitzen demnach im selben Boot. Weder die Tiere noch wir Menschen wurden für eine Vormachtstellung ausgewählt. Und „jeder weiß, dass die Aktivitäten des Menschen den Tieren viel Leid und viele andere Beeinträchtigungen zufügen, doch geben viele Menschen nicht zu, dass dies moralisch falsch ist. Sie meinen, wir hätten das Recht, so weiterzumachen wie bisher, obwohl es vielleicht schön wäre, etwas mehr Mitgefühl zu zeigen.“ (S. 32)
Die Tiere, also auch wir Menschen, haben „… Fähigkeiten, die für jede […] Art typisch sind.“ (S. 27) Jeder strebt nach einem guten Leben, Tiere und Menschen. Und nicht danach in seinen Fähigkeiten und seinen Vorstellungen vom Leben eingeschränkt zu werden. „Der Gegensatz zwischen einem blühenden und einem eingeschränkten Leben ist die zentrale intuitive Idee dieses Buches.“ (S. 27)
Natürlich haben wir Menschen ein paar gute Fähigkeiten, aber „die Fähigkeiten von Tieren sind bemerkenswert und komplex, und in zahlreichen Eigenschaften sind viele Tiere dem Menschen überlegen.“ (S. 37) Wir stehen nicht an der Spitze einer von uns aufgestellten Leiter. Es gibt „Tausende von verschiedenen tierischen Lebensformen, die allesamt eine Art geordneten Strebens nach Überleben, vollständiger Entwicklung und Fortpflanzung zeigen. Die Lebensformen sperren sich gegen eine Einstufung auf einer einzigen Skala: Sie sind einfach wunderbar verschieden. … Wir Menschen gewinnen bei den Parametern Intelligenzquotient und Sprache. Aber wer hat diese Tests erfunden? Viele Tiere sind viel stärker und schneller als wird. Vögel schneiden bei der räumlichen Wahrnehmung und der Fähigkeit, sich entfernte Ziele zu merken, weitaus besser ab.“ (S. 55)
Die verschiedenen Tiere haben unterschiedliche Fähigkeiten und ihr Empfinden für ein erfülltes Leben ist auch sehr unterschiedlich. Wie wir uns als Mensch ein erfülltes Leben vorstellen kann kein Maßstab für die (anderen) Tiere sein. Dies wird genau im Fähigkeitenansatz beschrieben, den Martha Nussbaum so vorstellt:
„Der Fähigkeitenansatz ordnet die Arten nicht in eine „Rangliste“ [Anm: GS: Allgemein stellen wir uns in so einer Rangliste immer an der ersten Position dar] ein oder gibt ihnen „Pluspunkte“ für ihre Ähnlichkeit mit uns. Stattdessen überlässt er sich dem Staunen und der Neugier und entdeckt so die vielfältigen und bemerkenswerten Weisen, auf die Tiere nach einem vollständig entwickelten Leben streben.“ (S. 137)
Auch für Naturbeobachter interessant
Einige Seiten des Buches könnten aus einem Manifest für Naturbeobachter sein. Hier geht es ums „Staunen“, ums neugierig sein, ums verstehen wollen.
- „Menschen lieben, was sie kennen.“ (S. 33): Beobachtet man die Vorgänge in der Natur, lernt man sie zu verstehen und zu lieben.
- „… ein Gefühl des moralisch gestimmten Staunens zu wecken, das zu einem moralisch ausgerichteten Mitgefühl führen kann.“ (S. 33) Aus Staunen und verstehen kann Mitgefühl für eine Art entstehen.
- Emotionen „Staunen“ und „Ehrfurcht“: „Beide sind starke Emotionen, die auf etwas Beeindruckendes und Geheimnisvolles reagieren, aber das Staunen ist aktiver als die Ehrfurcht, stärker mit der Neugier verbunden.“ (S. 34) Wir reden hier also von verschiedenen Emotionen, die uns helfen zu verstehen.
- Aristoteles meinte: „Zum Staunen gehört, dass man zunächst von etwas beeindruckt ist, dass es einen verdutzt und das man dann versucht herauszufinden, was hinter dem Gesehenen und Gehörten, das uns beeindruckt, vor sich geht.“ (S. 34) Nichts anderes machen Naturbeobachter. Sie halten erstaunt am Wegesrand an, versuchen herauszufinden, was wir sehen und hören.
- Staunen: „Es führt uns von uns selbst weg und zum anderen hin. … und es hat nichts mit unserem persönlichen Streben nach Wohlbefinden zu tun.“ (S. 34) Wir staunen nicht über uns, sondern über die Natur.
- „Wir sehen, dass Lebewesen einen Zweck verfolgen, dass die Welt für sie auf eine Weise bedeutsam ist, die wir nicht ganz verstehen, und wir sind neugierig und fragen uns: Was bedeutet ihnen die Welt? Warum bewegen sie sich? Wonach streben sie?“ (S. 35) Fragen, Fragen, Fragen – ganz typisch für Naturbeobachter.
- „Wie die Liebe ist das Staunen epistemisch: Es führt uns über uns selbst hinaus und erweckt eine aufkeimende moralische Anteilnahme.“ (S. 36) Wir sehen nicht mehr nur uns selber, sondern versuchen uns in Anteilnahme.
Martha Nussbaum meint, uns würde „das Staunen über die Vielfalt der Natur, die Liebe zu den vielen besonderen Formen des Lebens“ (S. 57) fehlen. Staunen ist also der erste Ansatz um die Fähigkeiten von Tieren verstehen zu können. Um überhaupt ihr Leben verstehen zu können „… müssen wir uns viele Lebensgeschichten von Tieren von Experten erzählen lassen, die eng mit einer bestimmten Tierart zusammengelebt und diese Tiere über lange Zeiträume hinweg studiert haben.“ (S. 127) Hier geht es also um Beobachten, Wissensaufbau und Lernen, um damit die Fähigkeiten der Arten zu ermitteln. Denn „idealerweise sollten wir über so viel Wissen verfügen, dass wir für jede Art von Lebewesen eine eigene Liste erstellen könnten, auf der die Dinge stehen, die für sein Überleben und Gedeihen am wichtigsten sind. Tatsächlich wird die Liste von den Tieren selbst geschrieben, indem sie bei ihrem Versuch zu leben ihre wesentlichen Bedürfnisse zum Ausdruck bringen.“ (S. 130) Genaues beobachten, hinterfragen und dokumentieren, indem beispielsweise Listen erstellt werden. „Ein bemerkenswertes Beispiel für die Grundlage einer solchen Liste ist das Elefanten-Ethogramm, das Joyce Poole und ihre Mitarbeiter für den afrikanischen Savannenelefanten erstellt haben. Diese beachtliche Datenbank enthält alles, was wir bisher über die Lebensform (dieser Art) des Elefanten wissen: über Kommunikation, Bewegung und alle charakeristischen Aktivitäten.“ (S. 131) Jede Tierart hat „ihre eigene Form der sozialen Organisation und sogar der Sinneswahrnehmung. Nur eine sorgfältige und liebevolle Beobachrung wird zeigen, was hierüber gesagt werden sollte.“ (S. 134)
Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik in Chicago.
Mehr zum „Staunen“ in diesem Buchreview: „Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier“ (2003, Ekkehard Martens)