In dem Buch „Gerechtigkeit für Tiere“ (2022) von der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum las ich interessante Sätze über das Staunen. Sie schreibt: „Zum Staunen gehört, dass man zunächst von etwas beeindruckt ist, dass es einen verdutzt und das man dann versucht herauszufinden, was hinter dem Gesehenen und Gehörten, das uns beeindruckt, vor sich geht. “ (Nussbaum, S. 34) und „Staunen erregt unsere Aufmerksamkeit, lässt uns aus uns selbst herausgehen und weckt unsere Neugier auf eine fremde Welt.“ (Nussbaum, S. 42) Ich markierte diese Stellen mit einem Sternchen und schrieb daran: „wichtig als Argument für Nature Journaling“. Staunen können und neugierig sein, gehört mit zum Nature Journaling. Um mehr über das Staunen zu erfahren besorgte ist mir das Buch „Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier“ (2003) von Ekkehard Martens.
Was ist denn überhaupt Staunen? Martens schreibt, es sei ein Gefühl, „das sich spontan einstellt. Das Gefühl des Staunens wird aber nicht bei jedem von demselben Gegenstand und nicht bei allen bei derselben Gelegenheit ausgelöst.“ (S. 9) Aber wer staunt den heute noch, in einer Zeit, die als „entzauberte Welt“ gilt? Max Weber sagte in seiner „berühmten Rede „Wissenschaft als Beruf“ (1917)“, dass „in einer entzauberten Welt, in der >prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte< mehr gelten, sondern „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen“ beherrschbar sind.“ (S. 10) Staunen kann man aber heute trotzdem, nicht mit offenem Mund, sondern mehr nach innen gekehrt.
Martens meint, „neugieriges Staunen wird […] im Alltag und in der Wissenschaft als durchaus nützlich geduldet, insofern dabei verwertbare Kenntnisse herausspringen können“, (S. 11) aber „wirklich staunen aber über Wunderbares und Unerklärliches, so scheint es, tun heute nur noch die Dummen und die Kinder, die keinen Durchblick haben.“ (S. 11)
Das Staunen wurde den Menschen abgewöhnt. Alles ist erklärbar und berechenbar. Was man nicht weiß, kann man sich anlesen. „Die Leute darüber aufzuklären, dass es für den aufgeklärten Menschen, der auf der Höhe seiner Zeit lebt, nichts zu staunen gibt, war vor gut hundert Jahren das erklärte Programm des professionellen Biologen und amateurhaften Philosophen Ernst Haeckel (1834 – 1919). Vor allem seine beiden Bücher Die Welträtsel (1899) und Die Lebenswunder (1904) … können bis heute als Programmschriften für die „entzauberte Welt“ gelten.“ (S. 11)
Peter Hein von der Düsseldorfer Band Fehlfarben sang in den frühen 1980er Jahren gelangweilt: „Ich habe das alles schon tausendmal gesehen. Ich kenne das Leben, ich bin im Kino gewesen.“ („Grauschleier“, Die Fehlfarben 1980). Da man bereits alles gesehen hat, gibt es nichts mehr zu bestaunen. „Überfüttert mit Unerhörtem“ hat man sich „das Staunen einfach abgewöhnt.“ (S. 13) Wie es die Fehlfarben ebenfalls in „Grauschleier“ texten, „man kennt schon alles, hat alles gesehen, ist auf nichts mehr neugierig und staunt über gar nichts mehr.“ (S. 13)
Aber wir wollen ja wieder staunen. Da fragt man sich: „… falls wir wirklich verlernt haben zu staunen? Und wie können wir staunen? Kann man staunen gar lernen?“ (S. 14) Wie lässt sich Staunen wieder erlernen? Dazu später mehr.
Neugier, im englischen curiosity, war früher in Deutschland als „Fürwitz“ oder „Aberwitz“ bekannt. Aus meiner Kindheit im Rheinland kenne ich noch die „Fürwitznas“, dass waren ziemlich neugierige Personen. Im amtlichen Hochdeutsch sind dies „Vorwitznasen“. Beim Nature Journaling ist „Curiosity“ ein wichtiger Begriff
Über die Jahrhunderte haben verschiedene Wissenschaftler und Philosophen sich zum Staunen und der Neugier geäußert. Für Francis Bacon (1561 – 1626) war Staunen „weder metaphysisches Glück noch ästhetisches Vergnügen, sondern ein nützliches Mittel der Weltbemächtigung.“ (S. 73) Bacons Ziel ist „nicht ein neues, angemessenes Staunen über die Schönheit oder Ordnung der Welt, sondern die Weltbemächtigung durch Wissenschaft („Macht über die Natur)“ (S. 76)
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz „sieht im Neugierverhalten sogar eine allgemeine arterhaltende Fähigkeit, die allen höheren Wirbeltieren zukommt, nicht nur den Menschen.“ (S. 82) „Das Neugierverhalten erhöht die Anpassungsfähigkeit und somit die Überlebenschancen.“ Als Beispiele nennt er Kolkraben und Wanderratten. „So kann sich der Kolkrabe auf Vogelinseln wie eine Raubmöve, in der Wüste wie ein Aasgeier und in Mitteleuropa wie ein Kleintier- und Insektenfresser verhalten. Eine ähnliche Flexibilität selbst unter widrigen Umständen lässt sich bei der Wanderratte beobachten.“ (S. 83)
Gibt Martens eine Antwort auf die Frage: Kann man staunen gar lernen? Das Buch ist ja kein Ratgeber, nach dem Motto „Wie sie in 5 Stunden das Staunen lernen“, aber dennoch enthält es ein paar Hinweise. Wie schon erwähnt, staunen heute eigentlich nur noch „die Dummen und die Kinder“. Martens wirft einen Blick auf die staunenden Kinder, denn „Kinder sind für Erwachsene Spiegel ihrer eigenen Kindheit als staunende Philosophen. Daher liegt der Versuch nahe, sich für eine Rückkehr des eigenen Staunens am Vorbild des Kinderstaunens zu orientieren.“ (S. 97/98) Wir Erwachsenen meinen wir hätten den Durchblick, wir haben uns „vielfach selbstvergessen in der gut funktionierenden Welt eingerichtet und die Sinnfrage abschließend beantwortet, und das heißt oft auch, als sinnlos abgetan haben, sind Kinder als Weltneulinge neu neugierig und zum Staunen über Unverstandenes und Ungewöhnliches fähig.“ (S. 101) Diese Sätze klingen dann doch wie aus einem Ratgeber, aber vielleicht ist es ein guter Rat, den wir Erwachsene ausprobieren sollten. Denn „wer staunen kann und auf Neues, Unerwartetes in der Welt und in seinem Leben neugierig ist, durchbricht wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis seine Alltagsroutine, überwindet lähmende Langeweile, öffnet sich überraschenden Eindrücken, erfährt bisher unbeachtete Sichtweisen ewig wiederkehrender Ereignisse und hat die Chance, über sein Leben in der Welt erneut nachzudenken und sich selbst neu zu orientieren.“ (S. 121)
Fast am Ende des Buches, hat der Autor dann auch noch konkrete Tipps für die Naturbeobachter, die ihr „alltäglichen Neugierverhalten“ daraufhin überprüfen sollten“, ob es als Gafferei oder Voyeurismus dem bestaunten Gegenstand gegenüber den nötigen Respekt erbringt. Während das Staunen seinen Gegenstand in seinem Selbstwert oder Sosein anerkennt und respektiert, degradieren Gafferei oder Voyeurismus das Bestaunte zum Bloßen Objekt der subjektiven Schaulust. Statt den Details einer Landschaft, von Pflanzen oder von Tieren zu vertiefen und ihren Gesamtanblick zu genießen, hakt man Details und Sehenswürdigkeiten unbeeindruckt und programmgemäß ab, nicht um etwas zu sehen, sondern um es gesehen zu haben.“ (S. 124)
Im Nature Journaling will man Staunen und damit Tiere, Pflanzen oder eine Landschaft in ihrem „Selbstwert oder Sosein“ anerkennen und respektieren, ja Details erkennen, verstehen und genießen und nicht nur etwas abhaken. Somit gehört Staunen und Neugier mit zum Nature Journaling und Staunen ist so weit mehr als bloß mit offenem Mund in die Landschaft zu gucken.