Interview mit Sven Jachmann

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Klar, Comics liest jeder als Kind, irgendwie. Wie bist Du als Erwachsenen dazu gekommen, Dich mit Comics intensiv auseinanderzusetzen und Rezensionen für verschiedene Zeitungen/Zeitschriften zu schreiben?

Das ist sicher ein typischer biographischer Verlauf: Erst wird man als Kind damit sozialisiert, verbringt die Sommer mit Comicstapeln und Horrorgroschenromanen im Yps-Zelt, dann bleibt man dabei. Berührungsängste mussten also nie abgebaut werden. Das Interesse an Comics, Filmen und Literatur überstand auch die heikle Phase Pubertät, da setzte auch das Schreiben ein, meist über diese Bereiche: erst fürs eigene Punkfanzine, mal für andere, schließlich für die Schublade.

Während des Studiums schraubte ich dann an einem Blog herum, um Seh- und Lektüreeindrücke zu notieren, die nicht zuvor durch ein riesiges Fußnotengerüst fundamentiert werden mussten. Das fühlte sich schnell viel angenehmer und irgendwie freier an, als sich in Räumen zusammen mit Uni-Aspiranten aufzuhalten, die ihren Dozenten die Tasche zum Pult trugen, ohne dafür ausgelacht zu werden. Außerdem herrschte in den Seminaren eine bizarre Ablehnung gegenüber allem, was sich auch nur in der Nähe eines kulturindustriellen Verdachts bewegte (und immerhin spreche ich von den 00er Jahren), das war geradezu ein interdisziplinärer Kanon. Auschwitz in einem Comic? Horrorfilme sollen politisch sein? Das Ende aus „Free Rainer“, wo junge Leute als Träger einer mündigen und vernünftigen Gesellschaft einhellig im Stadtpark gelbe Reclam-Bücher lesen, sahen diese Gestalten wirklich als goldene Utopie! Zu der Zeit konnte ich erste Texte in Zeitungen und Online-Magazinen veröffentlichen und da musste vermutlich auch viel Wut kanalisiert werden.

Dass ich nun viel über Comic schreibe, hat damit zu tun, dass ich a. nicht weiß, wie man ein Wrestling-Star wird, ist b. Zufall, weil Comic c. einen großen Stellenwert in meiner persönlichen Kultur einnimmt und liegt sicher d. auch daran, dass sich momentan eine breite Comickritik erst bildet. Man kann sich also prima austoben, es gibt keine tradierten Wegweiser, die etwa der Filmkritik vergleichbar wäre und deren Autorinnen und Autoren sich womöglich sogar bestimmten Theroieschulen zugehörig fühlten. Kann man als Vorteil sehen: Man sitzt nicht dauernd auf den Schultern von Riesen wie Siegried Kracauer, Frieda Grafe oder Karsten Witte, die einen schon beim geringsten Schluckauf zu Boden befördern. Aber das ist natürlich deformierte Romantik. Frieda Grafes Freiheit, im Auftrag der SZ ins Kino zu gehen und mit einem einzigen wohldurchdachten Satz zurückzukehren, wird die Comickritik unter heutigen Bedingungen gar nicht erst erlangen, um sie später dann wieder zu verlieren. Wenn man also heute über Comics schreibt, dann meistens wohl deshalb, weil man das Medium liebt und den Menschen dort draußen verklickern will, dass sie ohne dessen Lektüren um viele lehrreiche, bösartige, unheimliche, witzige, unterhaltsame, traurige und verstörende Erfahrungen ärmer in die Grube fahren.

Comics stehen immer noch am Rande des Buchmarktes. Von der Leserschaft der bürgerlichen Mitte und den Konservativen immer noch als Sache für Kinder und Lesefaule belächelt. Selbst große Buchhandlungen versuchen, anspruchsvolle Comics zwischen der Abteilung Humor und Manga zu platzieren (wo ich mich dann als Erwachsener doch nicht so recht wohlfühle). In den üblichen Comicläden erwartet man dagegen, dass eigentlich Sheldon Cooper, Leonard Hofstadter und Freunde irgendwo in Superhelden-Comics wühlen. Siehst Du in diesem Bereich in den letzten Jahren eine Veränderung?

Mawils „Kinderland“

Ja, und sogar eine ziemlich große. Dass ein Buch wie jüngst Mawils „Kinderland“ nach wenigen Monaten in die zweite Auflage geht oder von einem komplexen Meisterwerk wie Chris Wares „Jimmy Corrigan“ gut 10.000 Exemplare verkauft werden, wäre vor ein paar Jahren unvorstellbar gewesen. Die Veränderungen mögen sich langsam vollziehen, sind aber unübersehbar: Über Comics wird täglich in Funk, TV und Tagespresse berichtet, er wird wissenschaftlich institutionalisiert, sei es praktisch an den Hochschulen oder theoretisch an den Universitäten, Ausstellungen und Lesungen finden in Museen, Literaturhäusern und Buchhandlungen statt, Buchhandlungen erweitern stetig ihr Comicprogramm (und nur die schlechten oder überforderten quetschen Comics ins Humorregal; da gibt es auch viele Gegenbeispiele), Comicshops, vor allem großstädtische, professionalisieren sich, deutsche Comics werden im Ausland veröffentlicht und die KünstlerInnen erhalten international Preise, comicfremde Literaturverlage führen Graphic Novels im Programm (nur mal eine Zahl: 2013 wurden über 3200 Titel von 168 Verlagen veröffentlicht, 2003 wird es nicht mal die Hälfte gewesen sein), Nicolas Mahler und Ulli Lust erscheinen bei Suhrkamp, hehe, die Branche legt ausnahmsweise Differenzen beiseite und bringt seit 2010 den Gratis Comic Tag über die Bühne, Comicstipendien und Förderpreise werden ausgeschrieben, Tageszeitungen drucken wieder Comicstrips, neue Fachmagazine etablieren sich dauerhaft, das Goethe Institut schickt deutsche KünstlerInnen auf Reisen und mit dem Erika Fuchs Haus wird nun auch demnächst das erste deutsche Comicmuseum eröffnet. Blind assoziiert und allgemein beschrieben, aber diese Veränderungen sind innerhalb der letzten zehn Jahre eingetreten und indizieren keine Ausnahmefälle, sondern 2014 das Tagesgeschäft. In den 90ern hätte sich das wie Science Fiction angefühlt.

Man könnte auch sagen: Der deutsche Comicbetrieb hat die Muster, (informellen) Gesetze und Vorgaben des „großen“ Kulturbetriebs perfekt adaptiert. Das wird sich auch nicht mehr umkehren. Nur: Das gilt auch für die zunehmend prekäre ökonomische Lage des Kulturbetriebs, die den Comic womöglich bislang noch in eine etwas schizophrene Lage manövriert: Wenn man in der Comicbranche wegen einer flott verkauften 5000er Auflage jubelnd die Hände in die Luft wirft, tut’s der alteingesessene Literaturverleger ja eher aus Entsetzen. Die hiesigen KünstlerInnen und VerlegerInnen, die allein von ihrer Arbeit gut leben können, passen in ein Klassenzimmer und viele umfangreiche deutschsprachige Graphic Novels würden ohne den Schutzraum Hochschule, wo sie als Abschlussarbeit entstehen, gar nicht erscheinen. Man kann noch als Erfolg wahrnehmen, was andere Bereiche als tendenziellen Fall zu spüren bekommen. Viele ältere SchriftstellerInnen haben ja auch in der berechtigten und erfahrungsgestützten Hoffnung gearbeitet, im hohen Alter die Tantiemen als Rentenersatz zu nutzen. Die müssen jetzt stattdessen immer wieder auf den Markt. Dem Comicfeld bleibt diese Illusion wahrscheinlich direkt erspart, was natürlich ein zweifelhafter Segen ist. Ein Riesenerfolg wie Spiegelmans „Maus“ ist leider nach wie vor die absolute Ausnahme.

Aufgewachsen mit Kinder- und Jugendbüchern, in denen Illustrationen normal waren, wunder ich mich heute, dass die Buchillustration in Erwachsenenbüchern eher etwas für den Independentbereich ist – dort, angefangen mit der Büchergilde und Pressedrucken mit Miniauflagen, wird dies gepflegt. Die Mainstream-Buchverlage hingegen scheinen heute kaum noch bereit, in Buchillustrationen zu investieren, sogar in den illustrierten Klassikern (z.B. Charles Dickens oder Jules Verne) ist dies heute nur noch minderwertige Reproduktion. Der heutige Roman braucht keine Zeichnungen, die, so könnte man argumentieren, auch nicht vermisst werden, da sie die Fantasie des Lesers beeinflussen (daher könnte das Titelbild auch beliebig sein). Andererseits gibt es jetzt Graphic Novels, bei denen nicht nur ein paar ausgewählte Szenen illustriert sind, sondern die Bilder zusammen mit dem Text die Handlung tragen. Wie passen aus Deiner Sicht die beiden Strömungen zusammen?

Also grundsätzlich wundert mich das wenig, denn die Arbeit der meisten Comicverlage ohne Querfinanzierungsmodelle ist, wie gesagt, strukturell mit der von Independent-Buchverlagen vergleichbar: Die Einnahmen finanzieren hauptsächlich das zukünftige Programm und dass sich davon leben lässt, hängt mit viel Glück und zusätzlicher Mehrarbeit zusammen, für die andere nicht mal die Augenbraue heben würden. Das dann viel Liebhaberei und Sorgfalt beim Verlegen mit im Spiel ist zu Ungunsten eines gehobenen Wohlstands, ist fast schon ein zwangsläufiger Effekt, sonst würde man den Quatsch nicht machen, sondern besser gleich eine Leiharbeitsfirma gründen, reich heiraten oder Sarrazin verlegen. Dass die großen Verlage kaum noch illustrierte Bücher veröffentlichen, geschweige denn welche in Auftrag geben, nehme ich ihnen aus ihrer oftmaligen Perspektive, dass man eben nur ein austauschbares Produkt verkauft, gar nicht mal krumm: mehr Aufwand, schwerer zu kalkulieren, teurer und Experimente sind mit zunehmender Größe ein existenzielleres Wagnis, wenn nur Riesenumsätze den Laden am Laufen halten.

Einen gegenläufigen Zusammenhang mit der stärkeren Präsenz von Comics im Buchhandel sehe ich aber nicht unbedingt, denn da vermute ich schon ein Interesse am medialen Eigensinn des Comics, also dass die Leute Lust auf sequentielle, gezeichnete Erzählungen haben. Das muss Interesse an illustrierte Bücher nicht bedingen. Dass viele Menschen gerne Filme sehen, führt im Umkehrschluss ja nicht unbedingt zu einem gesteigerten Interesse an Fotografie.

Seit ein paar Jahren bist Du beim neuen Splitter Verlag als Redakteur. Wie würdest Du das Programm des Verlags beschreiben? Welche Aufgaben nimmst Du als Redakteur wahr?

Der Redakteur ist eher so ein Sammelbegriff, hauptsächlich mache ich aber das Lettering. Wir betreiben keine trennscharfe Aufgabenteilung, sondern jeder übernimmt das, was, je nach Gusto, Fähigkeit und Zeit, eben neben der Kernarbeit anfällt. Praktisch heißt das: Ich pflege und füttere die Facebook- und Twitter-Seiten sowie die Homepage, schreibe Klappen-, Katalog- und Pressetexte, mache dann und wann Korrektorat, Recherche und Marketing, prüfe und betreue Comicangebote, die uns geschickt werden, oder Presse- und Kooperationsanfragen, suche nach interessanten Titeln fürs zukünftige Programm, fahre zu Messen und verwandten Veranstaltungen usw. usf. Man rührt halt in vielen Töpfen.

Splitter würde ich heute als breit aufgestellten Themenverlag beschreiben. Als es 2006 mit zwei Novitäten im Monat losging, lag der Fokus ausschließlich auf frankobelgische Sci Fi- und Fantasy-Erzählungen im klassischen Hardcover-Albenformat. Das ist im Kern immer noch so, hat sich aber im Laufe der Jahre thematisch gewaltig weiterentwickelt. Jedes Genre wird mittlerweile berücksichtigt, für Funny-Comics wurde 2010 sogar eigens das Imprint toonfish gegründet. Neben dem typischen Album verlegen wir dicke Klassiker-Gesamtausgaben mit Zusatzmaterial, Graphic Novels (ggf. als sog. Splitter Books) und eigens entwickelte Formate wie das Splitter Double (zweibändige Miniserien zusammengefasst als günstige Gesamtausgabe), neben europäischen auch amerikanische Arbeiten (zuletzt etwa die „Creepy“-Gesamtausgaben von Richard Corben und Bernie Wrightson), neben Lizenzen auch Eigenproduktionen. Momentan erscheinen zwölf Titel im Monat. Ich glaube, was Splitter so viel Rückenwind verschafft hat, war die Verbindung der begeisterten Fanperspektive mit absoluter Professionalität und der großen Bereitschaft, auf die Wünsche der LeserInnen zu hören. Einiges davon sind Standards, die vor Splitter aber in der Comicszene alles andere als üblich waren: dass man laufende Serien wegen zu niedriger Verkäufe nicht abbricht; dass man die Backlist pflegt, damit NeuleserInnen nicht urplötzlich feststellen müssen, dass der achte Band einer zehnbändigen Serie beim Verlag nicht mehr erhältlich ist; dass Hardcover-Bücher zwar edel aussehen, aber nicht notwendig teurer als Softcover-Bücher sind. Zur haptischen Wertigkeit gesellt sich dann sozusagen noch eine ideologische: Wenn Horst Gotta beispielsweise, wie bei der Neuauflage von Hermanns Western „Comanche“ oder Richard Corbens „Creepy“-Kurzgeschichten, registrieren muss, dass die Vorlagen qualitativ arg mitgenommen sind, dann werden sie eben von ihm restauriert, dann übertrifft eben die deutsche sogar die französische oder amerikanische Edition und der aufwendige Arbeitsprozess wird für Interessierte als Video ins Netz gestellt; wenn man Vicente Segrelles latent surrealistische Fantasy-Malerei „El Mercenario“ in bibliophiler Aufmachung neu auflegt, dann wird die ursprünglich 13-teilige Reihe noch mit einem exklusiven 14. Band getoppt, den Segrelles extra für diese Edition angefertigt hat, weil er von den Mühen Splitters so sehr entzückt war. Der Anspruch ist es, Editionen für Generationen zu schaffen, die die Kunst und ihre KünstlerInnen honorieren, auch weil die GründerInnen allesamt selber aus der Praxis kommen und wissen, wie nervenaufreibend die Arbeit an einem Werk sein kann. Ich glaube, diese Begeisterung und Hingabe merkt man dem Verlag und den Veröffentlichungen einfach an.

Außerdem bist Du Letterer beim Verlag. Ich könnte so etwas nicht, mit meiner miesen Handschrift. Wie hast Du Dir dies angeeignet? Wie hat man sich diese Arbeit vorzustellen: Die Reinzeichnungen kommen digital mit freien Flächen und Sprechblasen …? Benutzt Du analoge (Stift, Feder) oder digitale Werkzeuge?

Da muss ich leider ein wenig entzaubern: Das Lettering erfolgt (heutzutage und im Regelfall) komplett digital am Rechner. Man arbeitet mit einer Indesign-Datei, die den vollständigen Comic enthält, der in verschiedene Ebenen gegliedert ist. Eine davon ist für die Sprechblasen und Soundwords. Aus einem separaten Textdokument, das die Übersetzung enthält, wird dann der Text kopiert und in die jeweilige leere Sprechblase übertragen auf Grundlage eines zuvor ausgewählten Fonts. Dann gilt es nur noch, einige Wörter, vor allem Soundwords entsprechend zu gestalten bzw. den Text dem beschränkten Raum anzupassen, was ggf. auch Kürzungen und Neuformulierungen bedeutet. Das ist übrigens auch der größte Unterschied zu einer rein literarischen Übersetzung: Der Platz in Comics ist endlich, der Spielraum sehr begrenzt. Die Übersetzer/innen müssen also bei ihrer Arbeit stets die Platzbegrenzung zusätzlich beachten. Vor dieser komplexen Leistung, einerseits den Tonfall der Vorlage zu transferieren und andererseits strukturell zur absoluten Präzision gezwungen zu sein, ziehe ich regelmäßig meinen Hut.

Im Falle von Mainstreamcomics – natürlich findet man auch hier zig Gegenbeispiele – verhalten sich Text und Bild meist relativ autonom zueinander, soll sagen, der Text soll Handlungsinformation vermitteln und bildet nicht unbedingt eine weitere ästhetische Ebene. Dafür ein adäquates Lettering zu finden, ist nicht allzu schwer, oft wird schon im Original ein Computerfont verwendet. Bei sog. Autoren-Comics (problematischer Begriff, aber egal), wo Strich und Schrift derselben Hand entspringen, ist das schon schwieriger. Wenn man auf die Originale von Julie Doucet, Robert Crumb, Craig Thompson oder, besonders extremes Beispiel, Chris Ware, schaut, die schon in einem Panel verschiedenste Regungen durch ihr Schriftbild erzeugen wollen, sieht man sofort die Übertragungsschwierigkeiten. Da setzen die Verlage ab und zu noch auf Handlettering. Dirk Rehm, Hartmut Klotzbücher oder Michael Möller sind ein paar der wenigen Genies hierzulande, die die Vorlagen eigenhändig perfekt nachahmen können. Keine Ahnung, wie so etwas möglich ist, von mir hat selbst der Paketdienst mal eine zweite, korrigierte Unterschrift verlangt.

Oft muss man aber auch mit geübten Augen sehr genau hinschauen, um den Unterschied zwischen Hand- und Computerlettering noch zu erkennen. Beispielsweise können in einem Font zehn minimale Variationen eines Bs deponiert sein, und das ist ja eine praktikable Möglichkeit, um die Unregelmäßigkeit einer Handschrift recht authentisch zu simulieren.

Comics/Graphic Novels benötigen vergleichsweise viel Platz, um eine Geschichte zu erzählen. Ich wünsche mir manchmal mehr Hintergrund-Informationen, die man schnell durch Texte erreicht. Kennst Du gute Mischformen zwischen herkömmlichen Buch und Comic? (Mir fällt da gerade die britische Zeichnerin Posy Simmonds ein.)

Simmonds arbeitet ja meist, neben den Sprechblasen, mit einer zweiten Textebene, die dann der Introspektion der Figuren dient, etwa in Gestalt von Tagebucheinträgen. Das kommt tatsächlich sehr oft im Comic vor; Alan Moore betreibt es sehr exzessiv in „Watchmen“, wo es vor mehrseitigen fiktiven Zeitungsartikeln, Kurzgeschichten aus Pulp-Magazinen, Auszügen aus wissenschaftlichen Fachartikeln, Briefen etc. nur so wimmelt; in „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ geht er ähnlich vor. Alison Bechdel zitiert und bebildert in ihrer neuen Graphic Novel „Wer ist hier die Mutter?“ psychoanalytische Fachliteratur und fiktive Zeitungsmeldungen. Ganz toll ist auch „Das Stadtecho“ von Francois Schuiten und Benoit Peeters, eine Art Appendix zu ihrer genialen Reihe „Die geheimnisvollen Städte“. Das Ganze ist ein fiktives Magazin im Zeitungsgroßormat und die Artikel nehmen im Stil objektiver Zeitungsberichterstattung noch einmal Bezug auf Ereignisse der Kernerzählungen, gigantisch illustriert und voller bizarrer Einfälle. Leider bekommt man das momentan nur antiquarisch.

Auf der anderen Seite vermischt Dave McKean in „Cages“ Text- und Bildelemente so furios, dass eine Trennung zwischen beiden Ebenen auch augenscheinlich hinfällig wird. Und Zeichner wie Eric Drooker („Flut“), Jim Woodring („Frank“), Thomas Ott („Dark Country“), Jason („Psssst“) oder Hendrik Dorgathen („Space Dog“) konstruieren den Großteil ihrer Comics komplett ohne Text – und da wird trotzdem eine ganze Menge erzählt. Letztlich ist ausschlaggebend, was die Fusion der Ebenen narrativ erreichen will. Ich finde es sehr schwer, nur ein Element zu isolieren. Man liest den Text, betrachtet das Panel oder umgekehrt, verknüpft Text mit Bild oder eben nicht, sieht den gewählten Bildausschnitt, ebenso die Gestaltung der gesamten Seite und wie das Bild darin integriert wurde, den Zeichenstil, die Farben, möglicherweise Bewegungslinien, Soundwords, die Gestaltung des Textes, verbindet all dies mit dem vorherigen und dem folgenden Bild und hat dann ja gerade erst mal die geistige Montage einer Minisequenz hinter sich.

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hat auch die Comicwelt erreicht. Neben Ausstellungen wie „Never Again! World War I in Cartoon und Comic Art“ im Londoner Cartoon Museum oder „Tagebuch 14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich“ im Bilderbuchmuseum in Troisdorf gibt es ein paar Comics, die sich mit dem WWI beschäftigen, u.a. „Der Erste Weltkrieg: Die Schlacht an der Somme“, ein Leporello von Joe Sacco, „Elender Krieg 1914 – 1919“ von Jacques Tardi und Jean-Pierre Verney und beim Splitter Verlag „Im Westen nichts Neues“ nach dem Antikriegsroman von Erich Maria Remarque, gezeichnet von Peter Eickmeyer. „Im Westen nichts Neues“ zeigt für mich, dass unter dem Begriff Graphic Novel auch illustrierte Werke möglich sind, die schwer als Comic zu erkennen und eigentlich Bilderbücher für Erwachsene sind. Wie siehst Du diese Entwicklung?

Der Erste Weltkrieg ist ja schon länger ein Thema im Comic, mindestens ein Drittel von Tardis Werk stützt sich darauf. Zu „Mutter Krieg“ – ebenfalls ein WWI-Comic, der vor wenigen Monaten bei Splitter erschienen ist – gab es Anfang dieses Jahres eine Ausstellung in der Ludwig Maximilians Universität München; die Auswahlbibliographie des Ausstellungskatalogs fasst rund 40 Titel allein seit den 80ern. Dass das Thema zurzeit auch im Comic gewichtiger wird, ist ein reiner Marketingeffekt. 2014 liegt der Beginn des Ersten Weltkriegs 100 Jahre zurück, mediale Dauerpräsenz ist vorprogrammiert. Da sind wir wieder bei der Adaption der Regeln des Kulturbetriebs: Es ist einfach sinnvoller, eine Neuveröffentlichung angesichts eines solchen runden Jubiläums entsprechend zu timen, wenn man die öffentliche Aufmerksamkeit erhöhen will. Schließlich konkurriert man im Prinzip mit dem gesamten Buchmarkt, der es da per se noch etwas leichter hat.

Antikriegsroman von Erich Maria Remarque, gezeichnet von Peter Eickmeyer. „Im Westen nichts Neues“.

Erstaunlicherweise hat sich „Im Westen nichts Neues“ zu einem echten Selbstläufer entwickelt, das war schon irre. Erst berichtet die Lokalpresse, daraufhin die Deutsche Presseagentur und dann ging’s los: NDR, SWR, SAT.1, BR, NDR, Arte, WDR, sogar BBC, Print und Radio exklusive, und gerade ist Peter von (s)einer Ausstellung des Goethe Instituts aus San Francisco zurückgekehrt. Ist natürlich immer spekulativ, aber ich glaube, ohne Jubiläum wären die Wellen weitaus kleiner geblieben.

Eine rein illustrative Arbeit ist Peters Adaption meiner Ansicht nach aber nicht. In einigen Kritiken wurde das bemängelt. Es gibt durchaus Comic-Charakeristika: wenige Sequenzen, Bild in Bild-Technik und die doppelseitigen Bilder kann man durchaus als comicspezifisches Mittel, als Splashpage, deuten. Vor allem aber werden ja reihenweise ikonische Klassiker der Malerei und Fotovorlagen zitiert, wird also ein Verhältnis gesucht zur Bildsprache über den Ersten Weltkrieg. Die Textillustration will den Immersionseffekt vertiefen, Peters Methode bricht ja eher mit solchen Rezeptionsantizipationen, macht auf die „Gemachtheit“ seiner Arbeit aufmerksam. Ein völlig anderes Vorgehen als bei Remarque, der ja mit seinem Dokumentarismus den Schrecken des Krieges vermitteln will. Peter vermittelt eher, wie man sich über den Krieg ein Bild macht, wie sich eine Kultur der Bildsprache entwickelt hat, er tritt also gegenüber Remarque einen Schritt zurück. Darin sehe ich den erkenntnistheoretischen Vorteil, dass man das Buch nicht einfach nickend und resümierend („Okay, Krieg verstanden.“) beiseite legt und zum Tagesgeschäft übergeht, im Gepäck eine weitere vermeintliche, falsche Schulung. Eine „blanke“ Illustration hat es da ungleich schwerer.

Das Interview führte G. Sahler im Herbst 2014 und erschien ursprünglich in der Blechluft 8 (2015).