Alan Cutler: Die Muschel auf dem Berg – Über Nicolaus Steno und die Anfänge der Geologie. 2003.
In verschiedenen Geologiebüchern hatte ich in den Abschnitten, in denen es um die Geschichte der Geologie ging, den Namen Nicolaus Steno gelesen. So schrieb Herbert Vossmerbäumer in „Geologische Karten“:
„1669 folgte der nächste Meilenstein in der Geschichte der Geologie. Damals fand der dänische Arzt und Theologe Nikolaus Steno in den toskanischen Bergen das sog. >Stratigraphische Grundgesetz< (oder >Prinzip<). Es besagt, daß das räumliche Über- und Untereinander der Gesteinsschichten einem zeitlichen Nach- und Voreinander entspricht. Das Obere, das >Hangende<, muß jünger sein als das Untere, das >Liegende<. (Vossmerbäumer 1983, S. 6)
Nicolaus Steno wurde im Januar 1638 in Kopenhagen geboren und zwar als Niels Stensen. Wie damals an den Universitäten üblich hat er sich einen lateinischen Namen gegeben: Nicolai Stenonis. Es sind unterschiedlich Schreibweisen üblich: Niels Steensen, Nicolaus Steensen, Nicolas Sténon oder Niccolò Stenone (vgl. Cutler S. 28) Er war bereits als Anatom bekannt, als er nach Florenz an den Hof der Familie Medici ging. Dort forschte er zunächst als Anatom, ging dann aber zur Geologie über, die es allerdings zu dieser Zeit als Wissenschaft noch gar nicht gab – denn Nicolaus Steno selber ist der Vater der Geologie.
Fossilien waren seit jeher bekannt. Doch hatte noch niemand verstanden, woher sie kamen und wie sie entstanden sind. Sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung hatten die Griechen, die sog. Vorsokratiker, die ersten Ideen. Später erklärte Aristoteles, dass es zum normalen Verlauf der Erde gehört, dass die Meere verschwinden und wiederkommen. So konnte man sich auch erklären, wie es kam, dass versteinerte Muschel auf trockenem Land zu finden waren (vgl. Cutler S. 10). Auch auf den Bergen, die dann wohl vor langer Zeit unter Wasser gestanden haben. In der europäischen Welt des siebzehnten Jahrhunderts war man für solche Ideen nicht aufgeschlossen. Die Heilige Schrift war das Maß aller Dinge. „Die meisten gebildeten Menschen zu Stenos Zeit […] glaubten vielmehr, die Muscheln wüchsen in der Erde, und in den versteinerten Muschelschalen hätten gar keine Weichtiere gelebt; außerdem seien die Berge niemals von Meeren bedeckt gewesen.“ (Cutler, S. 19) So schrieben christliche Autoren „versteinerte Muscheln seinen Relikte der Sintflut, greifbare Beweise der Heiligen Schrift und ein sichtbares Mahnzeichen für die Sündhaftigkeit des Menschen und die Macht Gottes.“ (Cutler S. 20) Die Wissenschafler des siebzehnten Jahrhunderts wollten den Dingen aber auf den Grund gehen und möglichst viel mit Naturgesetzten erklären können (Cutler S. 21). Cutler schreibt hier einen Satz, der wohl auch noch heute gilt:
„Die Wissenschaft versprach Hoffung und Aufklärung für die wenigen Erwählten, die sich ihres Fortschritts bewusst waren, doch der Mehrheit der Bevölkerung bot sie keinen Trost.“ (S. 32)
Die wenigsten Naturgesetze hatte man verstanden und wollte lieber im der Dunkelheit des Unwissens weiterleben. Hatte Aristoteles bereits in der Antike beschrieben, dass Veränderungen auf der Erde sehr langsam ablaufen („In der Zeit, die verstreichen würde, bis ein Ozean austrocknet oder ein Berg im Meer versinkt, würden Völker entstehen und untergehen“, S. 22), glaubte der christliche Mensch weiterhin, dass die Erde erst seit sechstausend Jahren bestünde (und bald unterging, denn „Sechstausend Jahre galten als Limit für die gesamte Lebensdauer der Erde.“, S. 22), d.h. für solche Veränderungen war die „gegebene Zeitspanneviel zu kurz. In all den Jahrhunderten beurkundeter Geschichte hatte man nichts dergleichen erlebt.“ (S. 21)
Der Erde selber oder den Objekte der Natur gestand man gar nicht zu, dass sie eine Geschichte hatten. Die Menschheit hatte eine Geschichte. Die Erde war mit all seinen Dinge in wenigen Tagen von Gott geschaffen worden, so wie man sie sah. Denn „für einen Christen war jeder Teil der Erde durch göttlichen Beschluss geschaffen worden, mehr oder weniger in seiner vorliegenden Form. Es bestand kein Anlass zu fragen, wie Berge oder Täler entstanden. Sie waren einfach erschaffen worden.“ (Cutler S. 24)
Der wesentliche Kern von Nicolaus Stenos Entdeckung war, dass die Gesteine der Erde zum Teil aus sich absetzenden Sedimenten entsteht, die sich im Wasser Schicht für Schicht horizontal absetzten. Er meinte, es gäbe „Regeln, nach denen sich Verwerfung, Hebung, Erosion und Schichtung der Landschaft und der darunter liegenden Grundgesteins in eine klar verständliche Reihenfolge bringen ließen. […] Steno erkannte, dass die Erdschichten, die fossile Muscheln einschlossen, durch eine allmähliche Ablagerung von Sedimenten entstanden waren und jede Schicht eine bestimmte Zeitspanne der Vergangenheit verkörperte. […] Die unterste Schicht war zuerst gebildet worden, die oberste zuletzt. Heutige Geologen bezeichnen Stenos Erkenntnis als >Prinzip der Überlagerung<. Je nach Sedimenten und Fossilien, die sie enthielten, gaben die Schichten Aufschluss über die Abfolge von Meeren, Flüssen, Seen und Böden, die das Land einst bedeckten. Dies bedeutete, dass die Geschichte der Erde Schicht für Schicht in Stein geschrieben steht.“ (S. 25) Steno hatte dies erstmals bei einem Experiment seines Lehrers Ole Borch begriffen. Dieser hatte gezeigt, dass „aus einer durchsichtigen Flüssigkeit >erdige< Partikel ausfielen. [Steno] konnte sich vorstellen, dass sich das, was er in Borchs Labor beobachtet hatte, auch in einem Urmeer abspielte – dass sich Erdkörner langsam im Wasser absetzten und auf dem Boden ablagerten. Als er später die Sedimentablagerungen beschrieb … charakterisierte er deren Anordnung mit einem Begriff, den er dem Sprachgebrauch des Labors entlehnte: stratum super stratum, Schicht auf Schicht.“ (S. 40) Diese Erkenntnis ist für die Geologie grundlegend. Zusammen mit Gebirgsfaltung, Erosion und Verwitterung und der Einsicht, dass Veränderungen sehr langsam verlaufen, ist bereits sehr viel erklärt. Aber damals hatte man all diese Erkenntnisse noch nicht und wollte Gedanken in diese Richtung auch nicht zulassen.
Steno hatte noch weitere Dinge entdeckt zu denen er sich einige Gedanken machte. Bei Steinen mit Fossilien kommt es häufig vor, dass Abdrücke und Versteinerungen von unterschiedlichen Arten zerrissen und durcheinander vorkommen. Cutler beschreibt eine von Nicolaus Stenos Ideen dazu: „Das Tier, das die Schale gebildet hatte, starb und wurde in Sedimenten begraben, in denen die Muschelschale versteinerte. Das Meer zog sich zurück, und die Sedimente, nunmehr trockenes Land, erodierten, wodurch die versteinerte Muschel freigelegt und zum Meer abgetragen wurde. Unterwegs war sie teilweise zerstört worden. Als sie im Meer angelangte, lag sie eine Weile auf dem Meeresboden, wo Entenmuscheln sie überkrusteten. Dann wurde die Muschel in einer neuen Ablagerung begraben, die das Fossil zutage treten ließ, als sich das Meer erneut zurückzog.“ (S. 129) Das zunächst genannte Muscheltier stammt also aus einer ganz anderen Zeit und von einem ganz anderen Ort als die Entenmuscheln. Statt Überreste aus einem, hat man hier Übereste aus zwei Habitaten gefunden.
Gesteinsschichten in den Gebirgen wie den Alpen und auch in den Mittelgebirgen, sind selten horizontal, sondern liegen schräg und sind häufig gefalten. Wohingegen Ablagerungen im Wasser horizontal verlaufen. Legen sich im Wasser mehrere Schichten übereinander, liegen diese ebenfalls horizontal. Weil bei meisten Landschaften „ihr Grundgestein irgendwann einmal von geologischen Kräften zusammengepresst und aufgefaltet“ wurden und die >Schichttorte< „deshalb umgekippt und zerquetscht und auf andere Weise verformt“ (S. 131) wurde, stehen die Schichten nicht mehr wie ursprünglich horizontal (dazu Stenos Grundsatz/Prinzip der „ursprünglich horizontalen Lagerung“, S. 132) Ehemalig horizontal stehende Schichten, können nun auch vertikal stehen. Was war ursprünglich oben, wenn die Formation senkrecht steht? Dabei hilft folgende Beobachtung: „Die Partikel in einer Sedimentschicht [sind] gewöhnlich der Größe nach geordnet, wobei die gröbsten unten und die feinsten oben liegen. Dank der Schwerkraft sind die Gesteinsschichten gleichsam mit einer Markierung für >oben< versehen.“ (Cutler S. 133)
Eine weitere Erkenntnis steht im Zusammenhang mit Abtragung von Bergen durch Erosion und Verwitterung und wird heute in der Geologie mit den Veränderungen in Mulden und Sätteln betrachtet. So können in einem Tal an den gegenüberliegenden Talseiten diegleichen Gesteinschichten auftauchen, diese waren „ursprünglich als durchgehende Schicht miteinander verbunden. Dies ergibt sich aus Stenos Prinzip der >lateralen Kontinuität<. […] Eine frühere Landschaft wurde kontinuierlich verändert und erst allmählich zu ihrem aktuellen Erscheinungsbild geformt; das Tal, das die beiden Schichten trennt, hatte anfangs gar nicht existiert. Und was jetzt als Berg erschien, war einst eine Senke.“ (S. 133)
Das Buch gibt Einblicke in das damaligen Denken und wissenschaftliche Arbeiten. Zwar steht Nicolaus Steno im Mittelpunkt, doch werden weitere Forscher wie René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz, Leonardo da Vinci, Francesco Redi oder John Woodward und deren Ansichten beleuchtet. Vermittelt wird, dass selbst die schlauesten Köpfe noch den Dogmen der alten Schriften verhaftet waren und daher zumindest auf dem Gebiet der Erdgeschichte, die wissenschaftlichen Erkenntnisse noch unbefriedigend blieben.
Steno veröffentliche seine Erkenntnisse in seiner 78-seitigen Schrift „De solido“ („Das Feste im Festen“). Ein geplantes umfangreicheres Werk zum Thema brachte Nicolaus Steno, der später Bischof in Deutschland wurde, nicht mehr heraus.
Der Autor Alan Cutler ist selber Paläontologe und Geologie.